Die gegenwärtige Lage aus spiritueller Sicht

H.H. Sacinandana Swami
Heidelberg 14.10.01

 

Wenn die spirituelle Seele einen Körper in der materiellen Welt annimmt, begegnet sie sechs starken ripuhs, d.h. Feinden, die im Bewußtsein gegenwärtig sind. Es handelt sich um folgende Charakterschwächen: kama , krodha , lobha , moha , matsara und matta. Kama sind starke materielle Begierden, krodha bedeutet Zorn, der aus Frustration entsteht, weil man die Begierden nicht stillen kann, lobha ist eine gesteigerte Form von Anhaftung, Gier. Moha heißt so viel wie Täuschung oder Illusion, matsara Neid oder Missgunst auf andere und matta ist Verrücktheit. Diese Feinde haben die Konzentrationslager gebaut, diese Feinde haben dafür gesorgt, dass unschuldige Menschen als Hexen auf den Scheiterhaufen des Mittelalters verbrannt wurden. Diese Feinde sorgen dafür, dass Eheleute sich zanken oder Kindern etwas Schlechtes angetan wird. Diese Feinde haben sich auch in die Mordflugzeuge gesetzt und in den Geist der Mullahs, die für den Anschlag auf die zwei erhobenen „Finger“ des Materialismus, die zwei Türme des World Trade Centers, verantwortlich zu machen sind. Diese Feinde: materielle Begierde, Zorn, Wut, Täuschung, Gier, Missgunst, Illusion und Verrücktheit sind für fast alles, was in der materiellen Welt geschieht, verantwortlich zu machen.

Aus spiritueller Sicht ist es eine Fremdbesetzung unseres Bewusstseins, wenn wir materielle Objekte begehren. Srila Bhaktisiddhanta Sarasvati Thakura hat einmal gesagt, es sei das größte Hindernis im spirituellen Leben, etwas anderes für wichtiger als Krishna zu halten. Sehen wir uns einmal die Menschen an, die etwas Schlechtes tun, z.B. einen Mörder. Er geht auch auf zwei Beinen, er ißt durch den Mund und kaut mit den Schneidezähnen und Backenzähnen, er ist verliebt wie jeder normale Mensch. Er begeht jedoch den Mord, weil plötzlich einer oder mehrere Feinde in ihm sehr stark geworden sind. Er ist eine spirituelle Seele, ein ewiger Teil Gottes, aber die genannten Feinde haben für eine gewisse Zeit zur Ausführung einer Tat überhand genommen. Die inneren Feinde oder Herzensterroristen haben ihn überzeugt, dass er richtig gehandelt hat.

In diesem Augenblick kommt uns Duryodhana vor Augen, ein maßloser Spitzenpolitiker im Mahabharata-Krieg, der sein ganzes Leben gegen die Pandavas intrigierte, um ihnen ihr rechtmäßiges Land und ihre rechtmäßige Position wegzunehmen. Kurz vor dieser großen Massenvernichtungsschlacht der Menschheit, dem Mahabharata-Krieg, finden wir Duryodhana, der diesen ganzen Krieg sein Leben lang vorbereitet hat, in seinem Palast, wie er ein nachdenkliches Selbstgespräch führt: ‚Wenn ich ganz deutlich mein Herz untersuche, ob ich dort einen Schatten von Missgunst gegen die Pandavas finde, muß ich nein sagen. Den Krieg führe ich nur aus den edelsten Motiven. Wenn ich mich frage, ob ich meinen Verwandten mehr zugeneigt bin als den Pandavas, oder ob ich parteiisch bin, muß ich es verneinen. Mein Herz ist offen und weitherzig und groß. Deshalb führe ich diesen Krieg.'

Eine ganze Weile fragt sich Duryodhana, ob er vielleicht doch Schuld an dem Krieg habe. Er ist der Hauptkriegstreiber – sagt aber: nein, die Pandavas hätten ihn herbeigeführt, sie seien an allem schuld. Es ist unglaublich, wie sehr Duryodhana in diesem Augenblick von Täuschung besetzt wird.

Die ganze Welt ist seit langer Zeit unter der Herrschaft dieser Feinde. In gewissen Zeiten haben diese Feinde das Blut der Welt vergiftet. Etwas Ähnliches lernt man auch in der Ayurveda. Wenn das Blut unrein ist, kommt es am Körper zum Vorschein, z.B. in der Form von Pickeln und Akne, schlechtem Mundgeruch, Furunkeln. So kommt es auch in einer Gesellschaft, wo das Blut verunreinigt ist, immer wieder zu Ausbrüchen, Gewalt, Missgunst, Kriegstreiberei, usw. Auch die heutige angespannte Situation, die Kriege in der Welt sind ein Symptom dafür, dass das Blut unrein ist. Am unreinsten ist es dort, wo man es tarnt, religiös oder politisch oder wohltätig-sozial, weil es da versucht, sich zu verstecken.

Einer der vielen Namen Krishnas ist Ripughna, d.h. jemand, der etwas beseitigt, derjenige, der die Feinde des Bewusstseins beseitigt. Im Caitanya Caritamrta heißt es:

„Dort, wo die Krishna-Sonne scheint, kann die Dunkelheit der Maya nicht standhalten.“

Die Rettung für Menschen, die von den genannten Feinden geplagt werden, besteht darin, die Krishna-Sonne im Herzen aufgehen zu lassen. Im eigenen Leben merkt man, wie sich das Bewußtsein. verengt, wie man von Anhaftung und Mißgunst gegen andere geplagt wird. Wenn in diesem Augenblick Krishna im Herzen aufgeht, wenn man sich auf Krishna besinnen kann, fühlt man sich sehr wohl, erleichtert und gesegnet im Leben. Dann ist man voller Liebe und hat keine Angst mehr, dass das Leben nicht mehr im richtigen Bereich liegt.

Ich möchte von einer alten Konfrontation zwischen einem Geweihten und einem großen Materialisten, einem Dämon, berichten, und zwar von Prahlad Maharaja und seinem Vater Hiranyakasipu, weil es dort einen sehr schönen Hinweis für uns gibt. Prahlad Maharaja hatte einen Vater, den er mit dem Kosenamen: ‚O bester der Dämonen' ansprach. Das war keine Beleidigung, sondern für Hiranyakasipu völlig in Ordnung. Er war sogar von dieser Anrede begeistert, weil er sich für den besten unter den Dämonen hielt, der erfolgreich in seinem Königreich dafür gesorgt hat, dass niemand mehr vedische Mantren chantete, sondern nur noch ‚Hiranyakasipu ist der größte' sang. Das war der einzige erlaubte Mantra. Irgendwann bemerkte er, dass sein Sohn, den er zu einem großen Spitzenpolitiker ausbilden wollte, von den Geweihten Krishnas eine spirituelle Erziehung erhalten hatte. Das schlimmste, das er sich vorstellen konnte, war, dass sein eigener Sohn von den Leuten, die er am meisten bekämpfte, den Geweihten Krishnas, gehirngewaschen wurde. Er zitierte seinen Sohn herbei und fragte ihn nach seiner Meinung über seinen Vater. Sein Sohn antwortete: „Das ist ganz einfach. Du musst sofort diesen Ton aufgeben, in den Wald von Vrindavan gehen und meditieren, sonst hast du keine Chance. Die Feinde des Bewusstseins, die Herzensterroristen, werden dich niedermachen.“ Mit großem Ekel stieß er seinen heiligen Sohn von seinem Schoß herunter . „Wie kannst du es wagen, mir einen solchen Rat zu geben.“ Prahlad Maharaja fuhr fort, zu seinem Vater zu sprechen: „Mein lieber Vater, bitte lege deine dämonische Denkweise ab.“ Hiranyakasipu hatte nämlich laut gebrüllt: „Irgendeiner von meinen Feinden hat dich dazu gebracht, dich gegen unsere materialistische Lebensweise aufzulehnen. Irgendjemand von meinen Feinden hat meinen eigenen Sohn gehirngewaschen.“

Diese Denkweise ist falsch. Wir sollten in unseren Herzen nicht zwischen Freunden und Feinden unterscheiden, sondern danach streben, dass unser Geist jedem gleichgesinnt ist. Außer dem unbeherrschten und irregeführten Geist gibt es in dieser Welt keinen Feind. Wenn man jeden auf der Ebene der Gleichheit sieht, erreicht man die Stufe, auf der man den Herrn in vollkommener Weise verehrt...

Materielle Begierden können die Vernunft rauben und werden somit in den Vedischen Schriften als Bewusstseinsfeinde beschrieben. Sie erscheinen in dem Augenblick im Herzen, wenn wir nicht mehr von der Schönheit Gottes in unserem Leben berührt werden. Sie kommen, wenn wir nicht mehr ergriffen werden, wenn der heilige Name unsere Lippen verlässt. Diese Feinde tauchen dort auf, wo das Herz in eine düstere Wüste durch materielle Wünsche verwandelt wurde, die wie ein kalter eisiger Hauch darüber wehen.

Prahlad Maharaja sagt deswegen zu seinem Vater in der gespannten familiären Situation: „Unterscheide in deinem Herzen nicht mehr zwischen Feinden und Freunden. Sieh zu, dass dein Geist jedem gleich gesinnt ist. Außer dem unbeherrschten und irregeführten Geist gibt es in dieser Welt keinen Feind.“

Im 5. Canto 18. 9 betet Prahlad Maharaja ganz aufrichtig darum, dass die Menschheit von diesen Feinden befreit wird:

„Möge das ganze Universum von Glück gesegnet sein, und mögen alle neidischen Personen friedlich werden! Mögen alle Lebewesen durch das Praktizieren von Bhakti-yoga ihre innere Ruhe finden; denn wenn sie hingebungsvollen Dienst praktizieren, werden sie an das Wohlergehen ihres Nächsten denken. Laßt uns deshalb alle der höchsten Transzendenz, Shri Krishna, dienen und immer in Gedanken an ihn versunken sein.“

Als Devotees mögen wir uns fragen, wie wir auf die Stufe kommen können, wo wir nicht mehr von den Herzensterroristen kontrolliert werden. Das ist nicht so einfach. Wenn man spirituelles Leben praktiziert, kommen plötzlich Gedanken auf, die sich überhaupt nicht damit vereinbaren lassen, Gefühle der Unruhe, des Unwohlseins. Man mag versuchen, an Krishna zu denken, Krishna ins Herz einzuladen, aber dort gibt es so viel Unrat, das Herz gleicht einer Kohlenmine. Je mehr man wäscht, desto mehr Dreck kommt hoch. Dies kann man daran sehen, dass viele Leute von den oben genannten Feinden gestresst werden. Wie können wir sie aus unserem Leben bringen? Wir sollten nie vergessen, dass spirituelles Leben sehr subjektiv ist. Man muß bei sich selbst anfangen. Ein spiritueller Mensch, der laufend auf die Welt zeigt und sagt: dies ist schlecht, das ist schlecht, der sollte sich bewusst werden, dass drei Finger immer zurück auf ihn zeigen. Er sollte nicht auf die Welt zeigen, die nur unter großen Schwierigkeiten verändert werden könnte, sondern bei sich selbst anfangen.

Die erwähnten Feinde sind unglaublich machtvoll. Seit Jahrzehnten zanken sich die Leute total verbissen um ein Wüstengebiet, den Gazastreifen. In Indien streiten sie sich über unfruchtbares Bergland. In New York City gibt es Streetgangs, die sich aufs Blut bekämpfen. In Deutschland gibt es Fußballclubs, die alle das gleiche tun: Ball spielen. Aber aus irgendeinem Grund hält jeder Fußballclub die anderen für weniger tüchtig und schlechter. Da stimmt doch etwas nicht Die ganze Menschheit ist überzeugt davon, dass irgendwelche anderen Gruppierungen nicht so gut sind und deswegen bekämpft werden müssen. Warum sind sie so ‚Duryodhana-mäßig' drauf? Das liegt daran, dass sie in ihrem Bewusstsein diesen schlechten Eigenschaften einen Platz eingeräumt haben.

In Caitanya Mahaprabhus lila gibt es eine sehr rührende Szene. Caitanya Mahaprabhu wurde von seinem Devotee Sarvabhauma Bhattacarya eingeladen, der mit Liebe einen großen Teller Prasadam brachte. Caitanya Mahaprabhu gab zu Bedenken, dass Er eigentlich nicht so viel essen möchte, weil Er ein Sannyasi ist. Aber als Er erkannte, dass Sarvabhauma Bhattacarya den ganzen Tag gekocht hatte, nur um Ihm diese Speisen anzubieten, aß Er. Plötzlich öffnete sich die Tür und der Schwiegersohn Amoga stürzte herein und führte sich unglaublich auf. „Seht diesen Sannyasi. Er frisst so viel wie 20 Leute.“ In dieser liebenden Atmosphäre, in der ein Devotee seinen Herrn verehrte, machte dieser Amoga eine völlig beleidigende Aussage. Und dann lief er weg. In diesem Augenblick sprang Sarvabhauma Bhattacarya auf und rannte mit erhobenem Stock hinter Amoga her, der in seinem Inneren neidisch auf ihn war. Am nächsten Tag erkrankte Amoga sehr schwer und lag im Sterben. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und die golden strahlende Persönlichkeit Shri Gaurangas kam herein und sagte zu ihm: „Amoga, bitte lebe“. Er berührt Amoga auf der Brust und forderte ihn auf, den heiligen Namen Haris zu singen. Er sagte ihm ferner, dass er ein Brahmana sei, der ein offenes Herz haben sollte. Wie konnte er Neid in den kostbarsten Platz, den er hat, sein Herz, einlassen? Wenn er nicht den heiligen Namen des Herrn chante, würde er sterben, getötet von seinem Feind, dem Neid. Darauf begann Amoga Hare Krishna zu chanten, sprang von seinem Totenbett auf und fing mit wehendem Gewand an zu tanzen.

Wie können wir es zulassen, dass die Feinde wie materielle Wünsche, Ablenkung von Krishna, Neid auf andere, Mißgunst auf andere aus unserem Herzen ein Terroristencamp machen? Das kann man nicht tolerieren. Wie kann man sein Bewußtsein am besten von diesen Fremdbesetzungen befreien? Prahlad Maharaja hat darauf im 7. Canto 7.29ff geantwortet:

„Von den verschiedenen Vorgängen, die für Befreiung aus dem materiellen Leben empfohlen werden, sollte derjenige, der von der Höchsten Persönlichkeit Gottes persönlich erklärt und gutgeheißen wird, als in jeder Hinsicht vollkommen betrachtet werden. Dieser Vorgang besteht darin, Pflichten auszuführen, durch die sich Liebe zum Höchsten Herrn entwickelt.“

Aus einer anderen Tradition möchte ich erzählen, wie wichtig spirituelle Leitung im spirituellen Leben ist. Im Islam gibt es eine mystische Richtung, den Sufismus, der uns inhaltlich in vielen Dingen sehr nahe steht.

Es gab einmal einen Schüler, der der Sohn einer reichen Ärztin war. Er begab sich zu einem Scheich – das sind die spirituellen Leiter der Sufis – der sofort sah, dass der junge Mann sehr stolz war. Er gab ihm deshalb den Auftrag, die Klos zu säubern. Als seine Mutter davon hörte, sandte sie 10 türkische Sklaven zu dem Scheich mit einem Brief, indem sie ihn bat, die 10 türkischen Sklaven zum Reinigen der Örtlichkeiten zu benutzen. Sie seien für diese Arbeit viel geeigneter. Er möge ihrem Sohn lieber die anständigen, die sauberen Arbeiten zuteilen. Der Scheich schrieb zurück: „Liebe Frau, sie sind Ärztin. Wenn irgend jemand ihrer Patienten Gallenbeschwerden hat, verabreichen sie die Medizin den 10 türkischen Sklaven oder dem Patienten? Ihr Sohn hat große Beschwerden im Herzen, er ist sehr arrogant und sehr ans materielle Leben angehaftet. Das Kloputzen ist nicht die Behandlung für die Sklaven, sondern für ihren Sohn. Er muß die Medizin nehmen, denn er ist krank.“

Krishna ist der ewig unnahbare Faktor für die Menschen, die im Herzen voller materieler Wünsche und Anhaftungen sind. Krishna wartet aber nur darauf, dass wir, z.B. in der Meditation, ihm entgegeneilen. Dann kann man auch den Einfluß der riphus verringern und dem Herrn in Liebe und Hingabe dienen.

Man muß Zuflucht finden können. Wo kann man in dieser Welt Zuflucht finden? Zuflucht ist dort, wo man Zuhause ankommt und sagt: ich brauche jetzt nichts mehr. Ich bin angekommen, bei Krishna. Das ist der Weg der ekstatischen Menschen, der Bhaktas und Bhaktins, der Devotees in dieser Welt. Solange man nicht bei sich im Herzen den inneren Feinden den Krieg erklärt, hört der Krieg in dieser Welt nicht auf. Es werden immer größere Karmareaktionen folgen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die UNO gegründet, mit dem Ziel: nie wieder Krieg! Eine internationale Verbindung. Augenblicklich toben 43 Kriege...

In Indien gab es jüngst ein Erdbeben, bei dem 120 000 Leute innerhalb von 6 Sekunden vom Erdboden verschluckt wurden. Wir leben in der materiellen Welt. Man muß anfangen, im Herzen zu arbeiten und einen intensiven Plan zu machen, wie man innerlich aufräumt und die Bewusstseinsfeinde langsam beseitigt. Das kann geschehen, indem man immer mehr an Krishna denkt und die Krishna-Sonne im Herzen aufgehen lässt, vor allen Dingen gut chantet, mit Krishna in Seinem Heiligen Namen Gemeinschaft pflegt.

Wenn wir ernsthaft Krishna in unserem Leben herbeirufen und für das Leben dieser Welt beten, werden wir Krishnas Segen spüren und erfahren, wie er die Welt verändert.